Chronisch Online: Die Internetsucht und ihre Folgen

Wir alle haben mindestens eine*n Freund*in, der oder die uns zu jeder Tages- und Nachtzeit Memes schickt, durchgehend neue Wortkreationen und Abkürzungen verwendet, die im World Wide Web geboren wurden (und von den meisten auch nur dort verwendet werden) und jederzeit eine zehnminütige Präsentation über das aktuelle Twitter-Drama halten könnte. Vielleicht sind wir auch selbst diese Person. Vielleicht sind auch wir chronically online - chronisch online.

Der Begriff chronically online verweist ziemlich geradeheraus auf seine Bedeutung – chronically online bedeutet, quasi immer, wenn es die Situation zulässt, online zu sein. Und manchmal auch, wenn es die Situation nicht wirklich zulässt. Chronically online ist, vor dem Schlafengehen als letztes und nach dem Aufwachen als Erstes aufs Handy zu schauen. Chronically online ist, beim Netflixschauen auf dem Tablet nebenbei noch durch den TikTok-Feed zu scrollen. Chronically online ist, beim Cafébesuch mit Freunden nebenbei Instagram-Storys anzuschauen oder am Esstisch mit der Familie Nachrichten zu schreiben, die warten können. Die Königskategorie des chronically online ist wohl das traurig-klischeehafte Bild vom Pärchen, das sich im Restaurant schweigend gegenübersitzt – weil beide von ihrem Handybildschirm in Bann gezogen sind.

 

In der heutigen Zeit sind wir wohl alle ein bisschen chronically online. Das muss auch nicht immer schlimm sein, wird der Konsum von Online-Medien jedoch übertrieben, kann dies einen negativen Einfluss auf das reale Leben haben.  Dabei ist die annähernd ununterbrochene Internetnutzung nur ein Teil des Phänomens. Wir alle haben es bereits erlebt: Diskussionen, die in Online-Foren geführt werden, ohne Bezug zu den realen Problemen der Menschen,
sogenannter Online-Aktivismus, bei dem Fans von Serien, Büchern, Filmen oder Videospielen sich anfeinden, wenn ihnen eine Meinung zu dem von ihnen geliebten Medium nicht gefällt und noch vieles mehr. Je mehr Menschen sich dabei auf diese Online-Welt konzentrieren, desto stärker scheinen die Folgen zu sein. So formuliert “Urbandictionary” zum Beispiel recht drastisch: Chronically online sei “ein Begriff, der für eine extrem sensible und egoistische Person verwendet wird, die so sehr von Cancel Culture und dem Internet eingenommen ist, dass sie keinen Bezug mehr zum wirklichen Leben hat [...] ihr Ziel ist es, das Leben für alle einfacher zu machen und alle Formen von ‘Hass’ und ‘-ismus’ auszurotten, während sie es in Wirklichkeit nur noch schlimmer machten.'

 

Chronisch online und unser Weltbild

 

Während ein immer größerer Teil unseres Lebens im Internet stattfindet, ist der interessante Trend zu beobachten, dass viele (auch hitzig geführte) Diskussionen des Internets wenige oder beinahe gar keine Bedeutung im wahren Leben haben. Während das Internet natürlich Raum für wichtige Debatten zu relevanten und diskussionswürdigen Themen bietet, sind viele Konflikte, die mit viel Leidenschaft und Wut ausgetragen werden, im Grunde bedeutungs- und folgenlos. So entsteht eine eigenartig verzerrte Parallelwelt, die zwar die meisten (wenn nicht mittlerweile so gut wie alle) Aspekte der realen Welt enthält, den Dingen aber nicht selten ein ganz anderes Maß an Bedeutung beigemessen wird.

Vielleicht ist das der Grund, weswegen viele im Internet geführte Debatten irgendwie ein wenig entrückt von der wirklichen Welt wirken. Das fängt an bei einem Creator, der als transphobisch bezeichnet wurde, nur weil er klargestellt hatte, dass er selbst nicht transsexuell ist und geht bis zur schockierenden Popularität der Auffassung, dass es elitär und klassistisch sei, mit der Familienplanung warten zu wollen, bis man finanziell ausreichend abgesichert ist, um sich eine Familie überhaupt leisten zu können.

Auch, wenn die grundlegende Absicht (Transphobie oder Klassismus anprangern) nicht falsch ist: Wenn diese (und andere Begriffe) in kleinlichen Onlinestreits unzutreffenderweise als Totschlagargument eingesetzt werden, führt das nur dazu, dass sie nach und nach an Bedeutung verlieren und echte Debatten zu diesen Themen in den Hintergrund rücken. Oder wie Rebecca Jennings es in einem Vox-Artikel formulierte: „It’s easy to use the language of social justice to justify anything we want, and by doing so, weakens real, meaningful activism.“

 

 Chronisch online und unsere Aufmerksamkeit

 

Wenn wir uns im Internet bewegen, werden wir laufend mit Informationen bombardiert. Und egal, ob Informationen uns erschüttern oder unterhalten, ob wir von ihnen begeistert sind oder lieber nichts davon mitbekommen hätten, Informationen nehmen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Das klingt banal aber das heißt nicht, dass es egal ist. Aufmerksamkeit, wie Zeit, ist eine endliche Ressource. Wir können sie nicht sparen und nicht einkaufen, aber sinnvoll nutzen. Unsere Aufmerksamkeit hin und wieder auf Sachen zu richten, die keinem produktiven Zweck dienen, ist nicht schlimm. Schlimm wird es, wenn wir immer öfter versuchen, unsere Aufmerksamkeit auf immer mehr Informationsquellen aufzuteilen: der Mensch ist nicht darauf ausgelegt, zugleich mehrere Informationen auf einer tieferen Ebene aufzunehmen. Also teilen wir unsere Aufmerksamkeit unter ihnen auf, was dazu führt, dass alles nur noch oberflächliche Beachtung erfährt. Mit der Zeit wird es immer schwieriger, die Aufmerksamkeit auf ein Objekt zu bündeln und über längere Zeit aufrechtzuerhalten – kurz gesagt, sich zu konzentrieren. Das Problem wird weiter verschärft, da Social Media Plattformen generell, aber insbesondere Kurz-Content-Formate wie etwa auf TikTok, bei der Benutzung sofort Dopamin ausschütten. Damit werden wir von unserem Gehirn immer wieder für unser Nutzungsverhalten belohnt. Die Belohnung für langwierige, anstrengende Aufgaben (wie etwa das Schreiben einer Hausarbeit oder die Arbeit an einem anspruchsvollen Projekt im Job) hingegen lässt viel länger auf sich warten. Diese Tätigkeiten sind dementsprechend deutlich uninteressanter und benötigen immer größere Überwindung, je mehr wir uns an unseren stetigen Nachschub TikTok-Dopamin gewöhnt haben. Wir bevorzugen dann immer stärker die Tätigkeit, die uns sofort ein bisschen glücklich macht, als die, die sich erst in Zukunft auszahlen wird.

 

 Den Stecker ziehen – die Lösung?

 

Am simpelsten, wenn auch in der Durchführung nicht gerade am einfachsten, wäre es, radikal zu werden: einfach alle Social Media-Plattformen für immer deinstallieren. Besser noch, alle Accounts löschen. Oder besser noch, das Smartphone direkt komplett entsorgen und auf ein „dummes“ Handy umsteigen, um die Internetnutzung auf das absolute Minimum zu begrenzen.

Tatsächlich findet man neben den üblichen Tipps zur Bewältigung der Internetsucht (App-Limits etc). auch eine deutlich rigorosere Schiene: alles löschen. Nicht nur Twitter, Instagram und TikTok. Auch Netflix und sogar Spotify müssen weg. Richtig konsequent wäre es, den heimischen WLAN-Zugang abschaffen und mobile Daten zu nutzen – um sich dazu zu zwingen, das Internet nur noch für das Allernötigste aufzusuchen.

Unvermeidlich stellt sich die Frage: Soll das wirklich die Lösung sein? Und was ist überhaupt so schlimm daran, zum Musikhören Spotify zu nutzen (also abgesehen davon, dass Künstler*innen auf der Streamingplattform nur wenig Geld sehen – was aber nicht einmal der Kritikpunkt war)? Muss ich wirklich auf alles verzichten, was das Internet und digitale Medien zu bieten haben - nur, um das Internet und digitale Medien um jeden Preis zu vermeiden?

 

Chronisch offline – und trotzdem nicht perfekt

 

Oft wird so getan, als gäbe es zwischen den Extremen keinen Mittelweg. Es ist entweder: „Ich scrolle fünf Stunden am Tag durch Social Media, drei davon direkt vorm Schlafengehen, wodurch ich am nächsten Tag zu spät aufwache und müde bin und mein Vorstellungsgespräch versäume und meine Zukunft den Bach runtergeht“ oder „Ich kann mir unterwegs Musik nur noch auf Walkmans anhören.“

Sehr aufschlussreich hinsichtlich der (un)nötigen Radikalität von Anti-Online-Bemühungen ist ein Beitrag von Paul Miller in The Verge von 2013, in dem er über sein internetfreies Jahr berichtet. Er beschreibt, wie er nach anfänglichen Schwierigkeiten eine Weile auf einem regelrechten High war und begann, die internetlose Zeit zu genießen. Aber auch das ließ nach der Zeit nach und er fand andere Wege, um sich abzulenken und seinen Verpflichtungen aus dem Weg zu gehen. Er schreibt dazu: „Ein gutes Buch zu lesen, erforderte Motivation, ob ich nun das Internet als Alternative hatte oder nicht. Das Haus zu verlassen, um sich mit Leuten zu treffen, erforderte genauso viel Mut wie früher. Ende 2012 hatte ich gelernt, eine neue Art von Fehlentscheidungen zu treffen, ohne das Internet zu nutzen.“ (Den ganzen Beitrag von Miller können Sie hier lesen.)

Das Internet macht es zwar ohne Frage einfacher, mal eben ein paar Stunden wegzuprokrastinieren. Es ist eine einfache schnelle Ablenkung, die heutzutage so gut wie jeder in der Hosentasche mit sich herumträgt. Und ja, diese Form der Ablenkung ist nicht nur fruchtloser, als in der Zeit Staub zu wischen oder Löcher in die Luft zu starren - sie kann uns auch nachhaltig beeinträchtigen.

 

Zugleich heißt das aber nicht, dass wir uns ohne Internet auf eine höhere Existenzebene begeben. Bestimmte Aufgaben empfinden wir als schwer oder unangenehm, egal ob die Verlockungen des Handys auf uns warten oder nicht. Manche Sachen werden wir immer aufschieben wollen, weil wir sie einfach lieber nicht tun würden – weil sie keinen Spaß machen, anstrengend sind, das Risiko des Versagens im Raum steht. Insofern ist das Internet vielleicht ein Werkzeug zu etwas, das wir ohnehin tun würden. Ein Werkzeug, das uns vielleicht einfach ein bisschen zu leicht zugänglich ist.

Wenn wir ohne Alternativplan einfach anfangen, uns das Handy und die sozialen Medien zu verbieten, werden wir andere Möglichkeiten erschließen, die freigewordene Zeit zu verschwenden. Vielleicht ist es insgesamt sinnvoller, das Leben erst mit anderen Tätigkeiten und Vorhaben zu füllen, und Methoden zu entwickeln, schwierige Aufgaben zu erledigen, und erstmal schauen, ob das Smartphone vielleicht direkt eine etwas weniger wichtige Rolle spielt. Nicht umsonst gilt als Faustregel, dass es einfacher ist, schlechte Gewohnheiten abzulegen, indem man sie durch gute ersetzt, als ersatzlos den kalten Entzug durchzuziehen. App-Limits, bewusste bildschirmfreie Zeit (vor allem vorm Schlafengehen), oder auch die (zeitweilige) Abmeldung von Socials können dabei eine wichtige Hilfe darstellen.

 

 Fazit

 

Online sein kann Spaß machen, nützlich sein und ist keineswegs immer schlecht. Im Wartezimmer oder in der Bahn mal einen Blick auf den Instagram-Feed zu werfen oder nach dem Abendessen ein bisschen durch TikTok zu scrollen, ist nicht prinzipiell problematisch. Es ist nur ziemlich leicht, ein (möglicherweise) kritisches Nutzungslevel zu erreichen.

Dauerhaft online zu sein schadet unserer Fähigkeit, uns zu konzentrieren und komplexe Sachverhalte zu erfassen. Das macht es zunehmend schwierig, unangenehme oder schwierige Aufgaben zu bewältigen. Zugleich sind wir vielleicht auch so sehr abgelenkt, dass nicht nur die unerfreulichen, sondern auch schönen Dinge des Lebens an uns vorbeiziehen. Exzessive Nutzung des Internets kann im Extremfall schließlich sogar dafür sorgen, dass wir ein verzerrtes Bild der Realität übernehmen, die Welt als übermäßig feindselig und jeden persönlichen Fauxpas einer Einzelperson als Manifestation eines strukturellen Problems wahrnehmen. Unserem Weltbild kann es schon helfen, die angestammte Bubble zu verlassen und sich Nachrichten aus verlässlichen Quellen zu holen. Und um unsere Konzentrationsspanne zu retten, müssen wir dem Internet auch nicht komplett entsagen – es gäbe tausende andere Wege, sich die Zeit zu vertrödeln und unangenehme Aufgaben zu vermeiden. Gegen übermäßige Prokrastination hilft es unter Umständen, sich Aufgaben in kleine, schnell schaffbare Pakete zu zerlegen. Stellt man fest, dass man ohne soziale Medien ein Gefühl der Leere im Leben empfindet, sollte man versuchen Alternativen zu finden. Zum Beispiel spazieren gehen, eine neue Sportart ausprobieren oder Ähnliches.
Eines sollte man jedoch nie vergessen: nicht alles, was unser Gehirn will, ist auch immer gut für uns und wir müssen uns das ein oder andere Mal auch austricksen, um nicht den Fokus auf das wirklich Wichtige zu verlieren. 

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